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Aus „Stadtteile Frankfurt", Frankfurter Rundschau, 04.02.1999

Die große Illusion

Zeugnis einer verspielten Epoche: Die historisch anmutende Fassade des Gründerzeitviertels

Frankfurt ist eine Enttäuschung. Zumindest für die Touristen, die in der Innenstadt umherstreifen und den schönen Kern der alten Stadt suchen. Von der vielhundertjährigen gebauten Geschichte stehen bekanntlich nur noch einzelne Erinnerungsstücke — Überlebende der Bombennächte. Dazwischen ein buntes Sammelsurium bundesdeutscher Architektur, das die Lust des Touristenauges nicht befriedigen kann; es ei denn, die Häuser wachsen in nackensteife Höhen.

Die Frankfurter haben sich mit dem geschichtslosen Zentrum ihrer Stadt abgefunden. Brauchen sie verwinkelte Beschaulichkeit, halten sie sich an die südmainische Vergnügungsmetropole Alt-Sachsenhausen oder an Bornheim, das Dorf (Insider reisen ins fachwerkselige Höchst). In diese Stadtteile jenseits der Mitte mögen Gäste dank Reiseführer und Apfelwein auch noch gelangen. Doch eine Anhäufung betonfreier und vergangenheitsverzierter Gebäude bleibt meist den Frankfurtern vorbehalten: das Nordend. Dabei ist die historisch anmutende Fassade des Stadtteils reine Illusion: Als die Gässchen der Altstadt vor Menschen lange schon überquollen, war die Gegend, in der heute auf 2,5 mal 2,5 Kilometern dicht an dicht Häuser stehen, noch von holprigen Feldwegen und Chausseen durchzogenes Ackerland. Allein Frankfurter Patrizier wie etwa die Holzhausens wohnten bereits draußen vor den Toren: ihre Gutshöfe und Sommerresidenzen, die „Oeden«, lagen hier. Erst als die Frankfurter im frühen 19. Jahrhundert die Wallanlagen geschleift hatten, konnte sich die eingeengte Stadt Luft verschaffen, indem sie sich nach Westen, Osten und nach Norden ausdehnte.

Von der Zickzacklinie der Befestigung aus kroch die Bebauung der Vorstadt entlang der Straßen nach Bockenheim, Eschersheim, Friedberg oder Hanau vorwärts. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte die Stadt, die Kräfte des weitgehend ungeregelten Bauens in fest Parzellen und Blöcken zu binden. Doppelhäuser sollten helfen, die Wohnungsnot der Stadt zu lindern. Bereits damals nahmen die vornehmen Leute mit der westlichen Vorstadt vorlieb, wo entsprechend herrschaftliche Häuser mit Gärten gebaut wurden. Die weniger Betuchten ließen sich im Osten nieder. Im entstehenden Nordend wohnte vor allem der Mittelbürger, später auch der Kleinbürger.

Aus der Zeit der Jahrhundertmitte sind einige mehrstöckige Wohngebäude erhalten, etwa die Häuser Sternstraße 11, Jahnstraße 6-11, Eckenheimer Landstraße 9-11/13-15 und an der unteren Berger Straße (4-10). Ihre Fassaden erscheinen schlicht, da sie zurückhaltend geschmückt und in gedeckten Grau- oder Weißtönen gefärbt sind. Dieser dem Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts verpflichtete Stil hielt sich in Frankfurt besonders lang. Erst in den achtziger Jahren des Jahrhunderts wurde er endgültig von Preußens Historismus abgelöst, der verschiedene Stile bunt vereint. Auftrieb erhielt das Bauen im Nordend durch die Eingemeindung Bornheims 1877. Stadt und Dorf wuchsen langsam zusammen.

Dem vorangegangen war die Erschließung der „Bornheimer Heide“, einem Areal, das heute zwischen Berger Straße und Burgstraße liegt und Luisenplatz und Heideplatz umfasst. Die Grundstücksfirma Oppenheimer & Weil konnte das Stück Land zu einem Spottpreis von der Gemeinde Bornheim erwerben und verkaufte es, gewinnbringend in Parzellen aufgeteilt, weiter an Bauherrn. Dort entstanden einfach ausgestattete Mietshäuser mit billigen Wohnungen. In den achtziger Jahren verkaufte die Familie Rothschild ihre „Dicke Oed“. Auf dem Areal zwischen Burgstraße und Friedberger Landstraße entstanden ebenfalls Wohnungen für die ärmeren Frankfurter.

Schon vor über hundert Jahren glaubten die Stadtväter, aus dem Handelszentrum am Main eine richtige Metropole machen zu müssen. Straßendurchbrüche, -begradigungen und die Anlage ganz neuer Verkehrswege sollten urbanen Charakter in die engen Gassen bringen. Der Alleenring, 1900 fertiggestellt, schloss vom Ostbahnhof bis zur Messe das ganze städtische Erweiterungsgebiet ein. Dabei wurden, ganz a la Haussmann, monumentale Dimensionen angestrebt, die sich aber nicht ganz mit denen der Pariser Boulevards messen können. Auch verzichteten die Planen und Bauherrn auf Vorgärten und bauten vorwiegend in geschlossenen Blöcken direkt an der Straße, in der Hoffnung, dass die Viertel ohne Grün großstädtischer aussahen.

Große Fabriken, Straßenbahnen, Autos: Deutschland hatte sich längst zu einer modernen Industrienation entwickelt aber die Häuser sollten aussehen wie bei den Ahnen. Die Architekten bedienten sich, oft im wilden Mix, bei antiken Vorbildern, bei Renaissance, Barock oder Gotik. So wollte es der Kaiser, der repräsentative Prunkbauten liebte, und der dem Stil den Namen gab: Wilhelminismus.

Auf der Günthersburgallee beispielsweise stehen nebeneinander Wohngebäude mit Fassaden der Neurenaissance, des Neobarock und des gotisierenden Stils; als sei die Straße ein Lehrbuch der Architekturgeschichte, ergänzt durch ein Kapitel Jugendstil. Griechische Säulen vertragen sich wunderbar mit Zierfachwerk, klassische Ornamente gesellen sich zu mittelalterlich anmutenden Erkern und Türmchen. Das Bürgerhospital an der Nibelungenallee breitet im protzigen Neobarock behäbig seine Flügel aus wie ein Residenzschlösschen.

Beherrscht wird das liebenswerte Formenchaos von dem Frankfurter Baustoff: Überall leuchtet Sandstein in verschiedenen Rottönen, manchmal bröselt er auch. Der Zierrat an der Schauseite der Gebäude wurde meist aus dem weichen Gestein gefertigt, die Wandflächen dagegen sind verputzt.

Und all das lieben die Frankfurter so sehr, dass sie das Nordend zu einem ihrer beliebtesten Wohnviertel gemacht haben. Altlinke, Lehrer, Anwälte, Studenten, überhaupt junge Leute zahlen für die hohen Altbauwohnungen gerne hohe Preise — akute Parkplatznot, wenig Grün, dreckige Luft und ein umfassendes Kneipenangebot inklusive. Sie wissen eben, wo Frankfurt so richtig Stadt ist.

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