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Aus : „Geschichten am Rande der Geschichte" von Wendelin Leweke, 1992

Ein Wilddieb mit Namen Hans Winkelsee

Wer ist der Mann am Eschenheimer Turm? An der Spitze des hohen Torbogens am früheren Eingangstor zu Frankfurt ist noch heute ein Sandsteinrelief zu sehen, einen Männerkopf mit Mütze darstellend. Die Meinungen über den Mann gehen auseinander. Es könne, so heißt es, der Meister Mengoz sein, der das viereckige Erdgeschoß gebaut und sich vielleicht am oberen Ende seines Werkes selbst verewigt habe. Oder Madern Gertener, der dem Turm die endgültige runde, schlanke und doch trutzige Form gab. Frankfurts Sagen- und Märchenerzähler meinen, es könne auch ein Porträt des Wilddiebes Hans Winkelsee sein, der den Neuner in die Wetterfahne geschossen haben soll. Doch wissen die Gelehrten nicht genau, ob dieser Winkelsee überhaupt je gelebt hat.
Madern Gertener war der berühmteste Frankfurter Baumeister des 15. Jahrhunderts. Von ihm stammte der Entwurf des Domturms, zu dem der Grundstein 1415 gelegt wurde. Historiker schreiben ihm auch die Pläne für den Chor der Leonhardskirche zu, ebenso das Leinwandhaus am Dom. Den Westchor der Katharinenkirche in Oppenheim hat er auch geschaffen. Sein frühestes Werk in Frankfurt war die Neugestaltung der Alten Brücke, für deren Sicherheit sich der »Städtische Werkmeister« 1399 verbürgte, sein letztes Werk der Eschenheimer Turm. Innerhalb eines guten Jahres hatte er ihn 1428 fertiggestellt. Mit Wetterfahne obenauf.
Wer aber war Hans Winkelsee? Er trat ziemlich spät, nämlich im Jahr 1852, ans Licht der Öffentlichkeit. In Ludwig Bechsteins Deutschem Sagenbuch erschien die Geschichte zum erstenmal gedruckt. 1861 übernahm sie Friedrich Enslin in sein Frankfurter Sagen- und Märchenbuch, 1911 erzählte Friedrich Bothe sie neu in einem Buch für die Frankfurter Schuljugend. Der deutsche Professor Karl Simrock hatte gar ein Gedicht über den Wilddieb Hans geschrieben. Er soll den Namen Winkelsee erfunden haben. In der überlieferten Sage habe der Mann nur Hans geheißen. Wann sie entstanden ist und über wie viele Jahrhunderte hinweg sie von Generation zu Generation weitererzählt wurde, weiß man nicht.
Helmut Bode erzählt die Geschichte in seinem »Frankfurter Sagenschatz« neu. Da war dieser Winkelsee ein »freier Wildpretschütz« in den Frankfurter Wäldern, der schließlich dem Forsthüter in die Falle ging. In anderen Versionen heißt es gar, er habe einen Wildhüter erschossen. In allen Geschichten wurde er gefangen und in den Eschenheimer Turm gebracht, direkt unter die knarrende Wetterfahne. Wie es sich gehört, verliebte sich ein Mädchen in ihn. In den meisten Versionen ist es die Enkelin des Turmwächters, blond, blauäugig, ein richtiges herziges Kind. In einem Buch hessischer Sagen aber heißt es: »Da war eine Schwarze, die ihn mehr als alle anderen zu fesseln vermochte, und die es ihm nicht vergessen konnte, daß sie schließlich von ihm verlassen worden war.« In der Fassung von August Verleger heißt es nur, daß man ihm verkündet habe, er werde nach neun Tagen »mit des Seilers Tochter Hochzeit feiern«. Das heißt, er werde gehenkt.
Der Fortgang der Geschichte ähnelt sich dann in allen Fassungen: Nach neun Tagen wurde der Wilddieb ins Freie geführt. Der Galgen stand bereit. Doch hatte Winkelsee den letzten Wunsch geäußert, mit neun Kugeln eine » 9« in die Wetterfahne schießen zu dürfen. Wenn ihm dies gelinge, so sagten die Herren vom Rat, werde ihm das Leben geschenkt. In der bekanntesten Fassung war es die Liebe zur blonden Bärbel, die ihm den Mut zum Gelingen gab. Die Herren vom Rat hielten nicht nur ihr Versprechen, sondern boten dem Meisterschützen auch das Amt des Schützenmeisters an. Doch ihn zog es wieder in die Wälder. Er wurde zum Forstmeister bestellt. Und die blonde Bärbel ward die Forstmeisterin.
Anders im Hessischen Sagenbuch. Da tauchte die »Schwarze« auf und rief in die Menge, sie wolle nach altem Recht den Verurteilten vor dem Galgen bewahren, wenn er sie zur Frau nehme. Doch Winkelsee wandte sich ab und bat, lieber neun Schüsse tun zu dürfen. Nach vollbrachter Tat wurde ihm auch in dieser Fassung das Amt des Schützenhauptmanns angeboten. Doch er wählte die Freiheit und zog in die Wälder. Allein. Bei dem Autor Verleger heißt es schließlich: »Hans Winkelsee hatte zuviel Scheu vor der Stadt, wo statt der grünen Bäume Galgen aus dem Erdboden wuchsen. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen.«
Die Frage »Wie kam der Neuner in die Wetterfahne?« stellt sich heute nicht mehr. 1874 hatte den Turm der Blitz getroffen, die Fahne schmolz dahin. Im Jahr 1859 aber hatte der Zeichner Carl Theodor Reiffenstein noch neun Löcher gezählt, die nach seiner Meinung einwandfrei »reingeschossen« worden waren. Bei der neuen Wetterfahne begnügte man sich mit sechs (eingestanzten) Löchern. Erst seit 1976 hat der Turm seinen »Neuner« wieder.

In der Luft mit Wein und Milchbrötchen

Frankfurt ist die Wiege der deutschen Luftfahrt. Genauer: der Luftfahrt über deutschem Boden. Denn der kühne Ballonfahrer, der am 3. Oktober 1785 sich mit seinem Heißluftballon über der Bornheimer Heide erhob, war ein Franzose: Jean-Pierre Blanchard. Ein Pfarrer namens Gollhard war unter den Zehntausenden von Augenzeugen und berichtete später: »Nachdem ihn (den Ballon) ein starker Wind schnell in die oberen Regionen getrieben hatte, so daß man ihn bald aus dem Gesicht verloren hatte, erreichte er die Höhe von 6500 Fuß (etwa 2000 Meter) und legte 14 Stunden in 39 Minuten zurück.« Die seltsame Rechnung besagt, daß man damals die Entfernung zwischen Frankfurt und Weilburg mit 14 Wegstunden berechnete. Daran gemessen war die Geschwindigkeit des Heißluftballons (dank des heftigen Windes) sensationell.
Franzosen waren die Pioniere der Luftfahrt. Im Jahr 1783 erfanden die Brüder Montgolfier den Ballon, der sich, mit heißer Luft gefüllt, in die Lüfte erheben konnte. Der bekannteste Ballonfahrer aber war Jean-Pierre Blanchard, der, damals 35 Jahre alt, im Januar 1785 zum erstenmal den Ärmelkanal von Dover nach Calais überflogen hatte. Im September des gleichen Jahres kam er mit allen notwendigen Geräten nach Frankfurt. Er wollte für seinen Aufstieg die Tage der Herbstmesse nutzen, als die Stadt voller Menschen war. Immerhin kostete das Zusehen Eintrittspreise von zwei bis elf Gulden. Chroniken berichten, daß sich am 3. Oktober 1785 100.000 Neugierige auf der Bornheimer Heide versammelt hätten. Frankfurt hatte damals etwa 35 000 Einwohner.
Doch zunächst lief einiges schief. Der Rat der Stadt hatte dem Luftschiffer einen Startplatz am Main zugewiesen, doch dieser wollte unbedingt auf die Bornheimer Heide. In Erinnerung an die »Schlacht bei Bergen« im Jahr 1759 schrieb er später: »Eben dieses Feld wählte ich, welches das Blut der Franzosen noch ausduftet, welches sie für die Erhaltung der Stadt Frankfurt vergossen ... « Der Start sollte am Sonntag, 25. September, sein, wurde aber zunächst wegen des stürmischen Wetters auf den 27. verlegt. Auch an diesem Tag wehte ein starker Wind, hundert Männer mußten den Ballon festhalten. Blanchard stieg mit dem Prinzen Friedrich von Hessen in die Gondel. Da bekam der Ballon einen Riß, der Aufstieg war unmöglich. Blanchard fiel in Ohnmacht.
Am 3. Oktober 1785 um 10.36 Uhr gelang der Start. Blanchard verzichtete diesmal auf Mitfahrer. Er nahm lediglich »40 Pfund Ballast, eine Flasche sehr guten Wein, zwei Milchbrote usw.« mit. Auch sein Hündchen hatte er dabei, das er, zur Freude des Publikums, an einem Fallschirm hinunterließ. In Bockenheim kam es wohlbehalten an. In seinen Aufzeichnungen über diese seine 15. aerostatische Reise schrieb der erste Ballonfahrer über Deutschland: »Der Wind Nord-Ost war ziemlich stark, der Himmel war überall ganz bedeckt und das Barometer stand unter der Linie "Veränderlich". Bei 6000 Fuß Höhe hörte ich drei Kanonenschüsse, die der Herr Landgraf von Homburg bei meiner Vorüberfahrt zu lösen befohlen hatte ... Als ich eine mit Waldungen gezierte Bergkette vor mir hatte, erhob ich mich wieder in der Entschließung, darüber hinweg zu segeln einen Versuch zu machen ... Der Himmel trübte sich mehr und mehr und meine Luftkugel befand sich ungefähr auf dem Durchmesser in den Wolken. Nicht weiter wollte ich nun in die Wolken gehen, um mich nicht dem Gesicht der mich beobachtenden Menschen zu entziehen. Ich hörte sehr deutlich den Klang der Glocken, die Flintenschüsse, und konnte mit meinem Teleskop Dörfer und Städte sehr genau unterscheiden. Um 11 Uhr 8 Minuten ward ich von fern eine Stadt gewahr, die mir sehr wohl gelegen zu sein schien. Es war die Stadt Nassau-Weilburg ... «
Ganz ohne Komplikationen verlief auch die Landung nicht. Als Blanchard auf einer Wiese landen wollte und den Anker auswarf, knüpfte ein Kind den Ballon wieder los. Der Mann in der Luft schimpfte kräftig, aber das Kind verstand kein Französisch. Als zweiten Landeplatz hatte sich Blanchard ein Gestrüpp ausgesucht. Hier machte ein Schäfer die Stricke wieder los. Beim dritten Versuch setzte er den Anker in das Wasser der Lahn, der Ballon landete am Ufer. Im Schloß von Weilburg wurde der Luftpionier, der mit dem Fürsten Carl von Nassau befreundet war, mit einem Festmahl gefeiert. Mit dem »herrschaftlichen Wagen« wurde er nach Frankfurt gebracht. Im Comödienhaus hatte die Großmannsche Gesellschaft ein Festspiel arrangiert, in dessen Mittelpunkt Blanchard und sein Ballon standen. Der Held des Tages mußte auf die Bühne kommen, der Applaus nahm kein Ende. Ein Gelage mit den vornehmsten Herrschaften im »Römisehen Kaiser« folgte, schließlich ein Empfang im Römer, wo ihm der Rat »50 Stück doppelte Krönungsstücke in Gold von der Krönung Kaiser Josephs II. von 1764, hundert Dukaten im Wert, überreichte.« Die Kasse stimmte!

Allerliebste Kanonen aus Dragée

Clara Mumm von Schwarzenstein, Ehefrau des Oberbürgermeisters von Frankfurt, schrieb am 11. Mai 1871 in ihr Tagebuch: »Noch im Bette liegend wurde ich durch ein fürchterliches Gepolter und gleich darauf Schreien von Heinrich (so hieß ihr Mann) herausgejagt: Willi (der sechsjährige jüngste Sohn) war kopfüber die glattgewichste Treppe heruntergestürzt. Gott sei tausend Dank, daß es so gnädig abging! Wahrscheinlich hat der Ranzen den Fall des Kindes gehemmt ... «
Mit dieser Aufregung begann im Hause Mumm von Schwarzenstein am Oeder Weg 56 ein denkwürdiger Tag. Fürst Bismarck hatte seinen Besuch angemeldet. Er wurde um sechs Uhr am Abend mit Gefolge zum Diner erwartet. Es galt, den am 10. April abgeschlossenen Frieden von Frankfurt zu feiern. Fürst Otto von Bismarck, der als Vertreter des deutschen Kaisers nach Frankfurt gekommen war, hatte gemeinsam mit dem französischen Außenminister Jules Favre den Friedensvertrag unterschrieben, der den deutsch-französischen Krieg beendete. Bereits am 28. Januar 1871 war in Versailles bei Paris Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert worden.
Frankfurt war seit knapp fünf Jahren preußisch. Die Aufregung über die Annektion im Jahr 1866, die preußische Besatzung, die auferlegten Kontributionen und vieles andere hatten sich inzwischen einigermaßen gelegt. Die Abneigung gegen alles Preußische war zwar bei vielen Bürgern noch lebendig, aber doch nicht mehr so deutlich. Daniel Heinrich Mumm von Schwarzenstein war seit drei Jahren Oberbürgermeister. Er sollte in seiner Amtszeit, die bis 1880 dauerte, eine Reihe neuer Pläne entwickeln und neue Aufgaben anpacken. Frankfurt war auf dem Weg zu einer modernen Großstadt. Daß Bismarck den Friedensschluß ins »Hotel zum Schwan« nach Frankfurt verlegte, hatte seinen Hintergrund: Er wollte die Frankfurter an einem wichtigen Ereignis der Weltgeschichte teilhaben lassen. Clara Mumm von Schwarzenstein hatte jedenfalls alles sorgfältig vorbereitet für die Feier im Haus Oeder Weg 56. Sie schrieb in ihr Tagebuch: »Die lange Tafel schmückte rundherum ein Lorbeerkranz mit Maiblumen und roten Apfelblüten, in der Mitte prangte der schöne silberne Aufsatz, ebenfalls mit Lorbeer, Palmen und Vergißmeinnicht ausgefüllt. Zu beiden Seiten des Mittelstücks erhoben sich Aufbaue von Conditor Bütschly (damals das erste Haus am Platze). Der eine stellte einen Tempel von Croquant dar, die Säulen von rot und weißem Gerstenzucker, das Dach, mit einem kleinen Eichenkranz verziert, trug weiße Schilde mit den Inschriften: Paris, Wörth, Sedan, Metz - umgeben von einem Kranz kleiner Kanonenkugeln und allerliebsten Kanonen aus Dragée. Der Sockel des Ganzen war geschmückt mit den Dragéebüsten der Helden, sowie den Dragéefahnen. Das Ganze sollte Krieg bedeuten. Der zweite Aufsatz stellte einen Friedenstempel dar, ungefähr wie der erstere, nur statt der Dragéebüsten waren verschiedene deutsche Wappen und Fahnen vertreten. Das Ganze gekrönt von einer Kaiserkrone.«
Georg Mumm von Schwarzenstein, der Enkel der Gastgeberin, der die Aufzeichnungen als Büchlein herausgegeben hat, schrieb in einer Anmerkung dazu: »Die Allegorien von Krieg und Frieden und die Verniedlichung in Gerstenzukker der schrecklichen Kriegswaffen durch den Konditormeister Bütschli können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Sieg mit gewaltigen Verlusten erkauft werden mußte. Auf deutscher Seite 49.000 und auf französischer Seite 139.000 Tote und viel Elend und Not.«
Das Essen verlief harmonisch und schmeckte den Gästen (auf dem in deutscher Sprache verfaßten »Speisezettel« standen 18 Gerichte). Clara Mumm von Schwarzenstein saß an der Seite des Fürsten Bismarek, der lebhaft mit ihr plauderte. Schließlich ergriff der Hausherr das Wort: »Die Anwesenheit des Herrn Reichskanzlers in hiesiger Stadt ist, nach dem, was sich im Laufe des Tages zugetragen hat, ein Ereignis von weittragender historischer Bedeutung. Abgesehen davon hat die Anwesenheit des Reichskanzlers in hiesiger Stadt, in der er sich trotz langjähriger Abwesenheit hoffentlich nicht fremd fühlen werde, zur großen Freude gereicht.« Und Bismarck sprach die versöhnlichen Worte: »Es hat mir große Freude gemacht, wieder in Frankfurt zu sein, wo ich immer gerne gewesen bin, und daß gerade die erste völkerrechtliche Aktion des wiedererstandenen Deutschen Reiches in der alten Krönungsstadt vor sich geht. Ich hoffe, der Friede von Frankfurt wird zugleich ein Friede mit Frankfurt und für Frankfurt sein.«

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