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Aus „Das unbekannte Frankfurt“ Band 3 von Walter Gerteis

DAS »IRRENSCHLOSS«

Es war im Jahre 1851, als der damals 42jährige Dr. Hoffmann von der Stadtverwaltung zum Arzt an der alten Irrenanstalt bestellt wurde. Die Frankfurter nannten sie nur das »Tollhaus« (oder mundartlich »Dollhaus«). Es stand mitten in der Stadt. Die Stelle, an der man es im 18. Jahrhundert gebaut hatte, hat sich bis heute natürlich vollständig verändert. Trotzdem - eines blieb von dem alten »Tollhaus« doch erhalten; den meisten Frankfurtern ist es unbekannt.

Wenn Sie, lieber Leser, von der Schillerstraße auf den Börsenplatz einbiegen, dann blicken Sie geradeaus auf das Gebäude der Zentralkasse südwestdeutscher Volksbanken und auf eine Tankstelle. Vor dem Kriege war hier die Stadtsparkasse und bis in die 20er Jahre hinein die Elisabethenschule (die dann nach der Eschersheimer Landstraße umzog). Ja, und vor rund einem Jahrhundert stand an dieser Stelle das »Tollhaus «.

Wenn man nun zwischen der Tankstelle und dem Haus der Zentralkasse hindurchgeht, dann kommt man auf einen Platz. Autos parken auf ihm, ein paar Bäume ragen aus dem Pflaster. Seine eine Seite bildet die hier häuserlose Meisengasse. Obwohl dieser Platz recht groß ist, hat er keinen offiziellen Namen. Das hängt damit zusammen, daß hier früher kein öffentlicher Platz gewesen ist. Es war der Schulhof der Elisabethenschule. Und vorher war es der Garten des »Tollhauses«. Hier gingen die Kranken hinter hohen Mauern spazieren.

Was Hoffmann in der Frankfurter Irrenanstalt vorfand, stimmte ihn traurig. Trostlos, so nannte er die Zustände im »Tollhaus«. »Schon damals — 1851 — wurde der Entschluß in mir fest, alles daranzusetzen, um den Neubau einer Irrenanstalt ins Leben zu rufen. « Erst langsam hatte sich in dieser Zeit die Erkenntnis durchzusetzen begonnen, daß man auch Geisteskranke menschenwürdig unterbringen mußte und daß es falsch war, sie von vornherein als unheilbar zu betrachten. Ein Irrenhaus war oft schlimmer als ein Gefängnis. Als es 1738 in der Frankfurter »Dollgasse« brannte, kamen sieben Kranke ums Leben; die Obrigkeit hatte verboten, die Türen zu öffnen.

Eine neue Irrenanstalt. Das war ein großer Plan für einen Mann, der keinerlei Vermögen besaß. Inzwischen suchte Hoffmann das Los seiner Patienten im alten »Tolthaus« so leicht wie möglich zu machen. »Schon Ihr Erscheinen in einer Krankenabteilung muß wie ein Sonnenaufgang wirken! « So forderte er von seinen Assistenten. Bei einer Feier deklamierte einer der Kranken zu Hoffmanns Lobe ein selbstverfertigtes Gedicht: »Er hat erhellt der Lebend‘gen Grab... «

An wen sollte sich der junge Arzt wegen einer neuen Anstalt wenden? Die Stadt lehnte ab. Aber, so sagte sich Hoffmann, es gibt doch so viele wohlhabende Leute in Frankfurt, und die Stadt ist doch berühmt wegen der Gebefreudigkeit ihrer Bürger. Er ging ans schwere Werk, die Frankfurter davon zu überzeugen, daß die alte Irrenanstalt in der engen Innenstadt unmöglich war und daß man vor den Toren der Stadt eine neue bauen mußte. »Ich wurde wirklich recht unangenehm und lästig. Ich sprach mit jedermann von nichts anderem als von meinem Plan, und ich glaube, man ging mir oft geflissentlich aus dem Wege.« Schließlich hatte er über hundert angesehene Bürger beieinander, die bereit waren, in der ganzen Stadt Beiträge für eine Stiftung zu sammeln. 46000 Gulden kamen so zusammen. Mancher Reiche spendete nichts und sagte, übrigens nicht ganz zu Unrecht, ein solcher kühner Plan sei nicht Sache von Privatleuten, sondern der öffentlichen Hand. Andere hörten sich die Bittsteller an, kritzelten etwas auf die Liste, und vor der Tür merkten jene, daß die Stiftung um 1000 Gulden reicher geworden war. Das war frankfurterisch gedacht, nicht auf die öffentliche Hand zu warten.

Es war ein guter Start. Das alte Irrenhaus repräsentierte auch seinen Wert. Aber es hätte bei weitem nicht gereicht, wenn nicht das Hospital zum Heiligen Geist 100 000 Gulden geliehen und wenn nicht der Herr von Wiesenhütten weitere 100 000 Gulden für den guten Zweck hinterlassen hätte. Den Rest schoß jetzt die Stadt zu. Es konnte losgehen.

Als Bauplatz wählte Dr. Hoffmann eine stille Gegend vor der Stadt, nämlich die erhöht gelegene Hammelswiese am Affensteiner Weg, draußen, unweit der einsamen Eschersheimer Chaussee. Die Bezeichnung »Affenstein«, es ist oft gesagt worden, soll von einem Avestein, einem frommen Bildstock, in dieser Gegend herrühren.

Zusammen mit dem jungen Architekten Pichler ging Dr. Hoffmann zunächst auf Studienreisen, nach Norddeutschland, nach Belgien, Holland, Frankreich und hinüber nach England. Was sie dort sahen und erkundeten, machten sie dann für ihren Bau nutzbar. Man beschloß, zehn lange ein- und zweistöckige Gebäude zu bauen, die in einem Geviert standen. Die Stadtverwaltung entschied, gegen Hoffmann, daß der Bau in Neugotik erstehen sollte. Über dem Hauptgebäude errichtete man eine Nachbildung des Römergiebels. Im Volk nannte man die Anstalt das »Irrenschloß«. 200 Kranke hatten Platz. Im östlichen Teil der Anstalt brachte man die Männer unter, im westlichen die Frauen. Die ruhigen und die unruhigen Kranken lebten jetzt voneinander getrennt.

Ende Mai 1864 wurde die Anstalt eröffnet. Sie war eine der fortschrittlichsten ihrer Zeit. Frankfurt war damals noch Freie Stadt. Hoffmann wohnte zusammen mit seiner Familie, seinen Kindern und Enkeln in der Anstalt. Er leitete sie bis an die Grenze des biblischen Alters, bis zu seinem 79. Lebensjahr. Die letzten sechs Jahre seines Lebens verbrachte er dann ganz in der Nähe, sein Werk ständig vor Augen, im Grüneburgweg 95.

Schräg gegenüber, im Schweizerhäuschen am Eingang zum Grüneburgpark, wohnte ein anderer prächtiger alter Frankfurter, der Friedrich Stoltze. Es heißt daß die beiden alten Herren gemeinsam ein Bilderbuch »Kaspers lustige Streiche« verfaßt haben sollen; wir können hier nicht entscheiden, ob dies stimmt.

Damit aller guten Dinge drei sind — in dem Haus von Dr. Hoffmann wohnte der Komponist Engelbert Humperdinck, Lehrer am Hochschen Konservatorium und Musikreferent der »Frankfurter Zeitung«. Im Grüneburgweg 95 komponierte er seine berühmte Märchenoper »Hänsel und Gretel«. Man darf es schon bemerkenswert nennen, was sich da so zufällig auf wenigen Quadratmetern im stillen Grüneburgweg in den neunziger Jahren an Talenten, an Könnerschaft, Humor und humaner Lebensweisheit vereinte.

Friedrich Stoltze starb im März 1891, Heinrich Hoffmann im September 1894 und Humperdinck verzog 1897 nach Boppard. In den 20er Jahren des neuen Jahrhunderts zog auch die Nervenheilanstalt um, nach Niederrad. Dort, wo sie Hoffmannsechs Jahrzehnte vorher sozusagen aus dem Nichts geschaffen hatte, entstand das prächtige Verwaltungsgebäude der IG Farben. Was einst draußen vor der Stadt gelegen hatte, war tief in ihr Inneres gerückt...

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